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Der magische Stein – die Hölle des Nordens

Der magische Stein

Viele Mythen ranken sich um ein Rennen im Norden der stolzen französischen Republik. Früher starteten die der Landstraße tatsächlich noch in Paris. Mittlerweile nehmen die bezahlten Rolleure den Kurs ab Compiegne in Angriff, was ihre Leistung nicht schmälern soll. Für den Normalsterblichen bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. Zum einen die Variante der ASO (Veranstalter des Pro--Rennens), welche zwar einen Tag vor den Profis auf die Reise geht, aber lediglich 120km Streckenlänge aufzuweisen hat. Dagegen bietet der traditionsreiche VC Roubaix alle zwei Jahre eine Variante mit 210km an. Diese kommt der Originalroute der Profis schon recht nah und bietet die traumhafte Möglichkeit einmal selbst ins Velodrom von Roubaix einzufahren.

Die Frankfurter Crew um Didi Turgau, Lorenzo Pantaninni und Nic the Crow beschloss an der letztgenannten Variante zu partizipieren. Um dem Original möglichst nahe zu kommen, bezogen die Herren ein Quartier in St. Quentin. Zwar findet die Veranstaltung des VC Roubaix nicht im April statt, aber auch im Juni kann das Wetter wie im April sein. Doch dazu später mehr.

Anfahrt

Freitag, den 8. Juni 2012 starten wir am Morgen in Frankfurt. Unser geräumiges VIP-Shuttle wird beladen und los geht die Reise über Saarbrücken, Metz und Reims nach St. Quentin. St. Quentin liegt im Department Aisne und hat etwa 55.000 Einwohner. Direkt gegenüber der Basilika liegt unser Hotel, gute Lage, zweckmäßig, mehr nicht.

Basilika von St. Quentin

Wir erkunden erstmal die nähere Umgebung und halten Ausschau nach geeigneten Lokalitäten zur Aufnahme der lebensnotwendigen Nahrungsmittel. Im Norden des Landes scheint der Gott ein ziemlich armer gewesen zu sein…

Ankunft in St. Quentin

Nach lausigem Essen endet der Abend sehr lustig mit Einheimischen in einer typischen Bar bei reichlich Champagner. Da sich das Wetter trotz negativer Prognosen immernoch von seiner schönen Seite zeigt, beschließen wir ans Meer zu fahren. Was kann es besseres geben, als am Tag vor dem Rennen, dem Rauschen der Wellen zu lauschen.

Der Tag am Meer

Von unserem Startort sind es nur knapp 150km bis nach Le Crotoy. Wir schnuppern Seeluft und genießen den Nachmittag bei bester französicher Küche. Das kleine Familienhotel Les Tourelles ist ein echter Geheimtipp für jeden der mal in der Gegend ist, Hammer!

Les Tourelles

Der Abend endet deutlich früher als am Tag zuvor, nach dem ersten Auftritt der deutschen Elf bei der EM in Polen/Ukraine.
Die wenigen Stunden Schlaf können die Aufregung kaum lindern, um 4:00 Uhr klingelt der Wecker und die letzten Vorbereitungen werden getroffen. Nach den Wettervorhersagen der vergangenen Tag ist jeden Augenblick mit lang anhaltendem Dauerregen zu rechnen. Bereits am Vorabend schauen wir nach einem sehr sonnigen Tag ängstlich zum Himmel, aber da funkeln nur die Sterne. Ein Blick aus dem Fenster auf den dunklen Parkplatz vor dem Haus beruhigt nach dem Aufstehen, alles trocken. Doch wird das so bleiben? Wie kalt ist es? Welche Bekleidung ist die Richtige? Ich pokere hoch und entscheide mich für kurz-kurz und verzichte auf die Regenjacke. Wir beschwören noch einmal die 15% Nicht-Regenwahrscheinlichkeit und um kurz vor 5 Uhr gehen drei Spinner auf die Reise von St. Quentin nach Roubaix.

Abfahrt in St. Quentin

Eine Stunde später holen wir uns in Bohain den obligatorischen Startstempel und setzen die Reise fort. Das Streckenprofil ist entgegen unserer Erwartungen eigentlich nie flach, es geht entweder hoch oder runter oder etwas anderes verzögert unser Vorankommen.

Morgenstimmung

Das etwas andere begegnet uns zum ersten Mal bei KM 45, Pavé, Redoute 1 von 32. Blauäugig und voller Stolz lassen wir die Weicheier auf den Seitenstreifen und halten uns in der Mitte des Weges. Es rüttelt ganz schön, doch wir sind zuversichtlich was unsere weitere Reise angeht. Zur Fahrtechnik ist anzumerken, großes Blatt vorne, mittleren Gang hinten und möglichst >27km/h fahren. Dann geht es ganz gut, die Frage ist nur, wie lange reicht die Kraft um diese Passagen entsprechend zu bewältigen?

Pavé - Helden und Lutscher

Das Pavé wird in verschiedene Kategorien eingeteilt. Die Größe und Form der Kopfsteine variiert, ebenso ihre Anordnung und Beschaffenheit, sowie der Allgemeinzustand. Unsere Definition umfasst das gesamte Repertoire der Fäkalsprache, häufig sind Begriffe wie „asoziale Scheisse“ oder „brutale Drecksau“ zu hören.

Zuversichtlich: Nic the Crow

Bei Km 70 erreichen wir nach 4 Sektionen die erste Verpflegung in Solesmes. Knapp ein Viertel des Weges ist nicht asphaltiert, besonders der Pavé de Quievy mit seiner Länge von 3700m und im Anschluss der Pavé de Saint Python mit 1500m geben einen Vorgeschmack auf das folgende Szenario. Da es noch relativ frisch ist, ziehen wir eine schnelle Weiterfahrt vor. Es geht Schlag auf Schlag, weitere 7 Pavé-Abschnitte lauern auf dem Weg zur nächsten Verpflegung. Es läuft den Umständen entsprechend gut.

Mit der (noch) vorhandenen Kraft ballern wir über das Kopfsteinpflaster wie der junge Cancellara. Hinzu kommt, es ist nach wie vor trocken, zwar grau, aber trocken. Der versprochene Regen lässt auf sich warten und das ist ein unschätzbarer Vorteil auf dem Untergrund. In Arenberg machen wir also unseren zweiten Verpflegungsstop. Nic ist der Meinung, alles halb so schlimm wie in Flandern und wir packen es locker. Natürlich folgt auf solche Sprüche meist die Strafe auf den Fuß. In diesem Fall auf die Hand.

Lorenzo am Einstieg zum Wald von Arenberg

Arenberg, ja richtig, da war doch was. Der berüchtigte Wald von Arenberg, der schon so manchen Profi seine Siegchance kostete und Träume je beendete. Diese Pavé ist an Härte kaum zu übertreffen, Kategorie unsortiert und unbearbeitet. Nur wenige fahren die kompletten 2200m, bereits nach wenigen Metern wechseln die meisten auf den „Chickenway“. Wir probieren alles, schließlich sind wir nicht nach Frankreich gefahren, um den Schotterweg zu fahren. Es folgt mit der Pavé de Hornaing mit 3700m wieder ein sehr langer Abschnitt. Die Kräfte schwinden. Doch es regnet immer noch nicht.

Nach weiteren 8km grobkörnigem Untergrund kommen wir an die Accueil 4 in Orchies. Wir machen eine etwas längere Pause und Essen viel. Mittlerweile sind 160km absolviert und das meiste ist geschafft, denkste. Generell habe ich nach längeren Pausen Probleme wieder in Tritt zu kommen, doch eine Atempause wird nicht gewährt.

Pause

Die nächsten 9 Abschnitte rauben die letzten Kräfte, die Hände und Finger schmerzen, meine Unterarme krampfen beide. Manchmal lasse ich den Lenker einfach los, zum Glück passiert nichts. Teilweise ist das Pflaster so brutal, dass die Geschwindigkeit weit unter 20km/h liegt. Einmal fällt vor mir ein Italiener einfach stumm vom Rad in den Acker. Er ist aber in Ordnung und berappelt sich wieder. Zweimal sehen wir Krankenwagen, die verletzte Teilnehmer abtransportieren müssen. Blut, Schweiß und Tränen werden hier vergossen.

Im Eifer des Gefechts verpassen wir tatsächlich die letzte Verpflegung (Accueil). Ich bemerke dies erst, als unerwartet zwei Pavés lauern, die erst nach Bouvines kommen sollten. Zum Glück gibt es noch eine kleine Extra-VP außerhalb des Plans. Wir werden mit Wasser, Keksen und frischen Orangen versorgt.

Hölle des Nordens

Anschließend erwartet uns das große Abschlussfeuerwerk, un-deux-trois – dreimal Pavé der übelsten Sorte. Darunter der legendäre Carrefour de l'Abre, insgesamt über 5200m Kopsteinpflaster am Stück mit nur kurzen Unterbrechungen. Völlig im Tunnel pendeln die Fahrer zwischen nahezu unfahrbarem Belag auf und neben dem Weg. Eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

Als letzter Abschnitt kommt die Pavé de Hem ca. 10km vor dem Ziel, nochmal 1400m Schinderei. Dann endlich ein Schild „Roubaix a 3 km“, die Straßen werden breiter, der Verkehr nimmt zu. Der langen Geraden folgt die Einfahrt ins Velodrom. Lorenzo und ich liefern uns noch einen kleinen Zielsprint ohne Wertung, Nic am Hinterrad, dann ist es geschafft. Die des Nordens wurde bezwungen – das zweite Monument.

Velodrom

Die nackten Zahlen:
St. Quentin – Roubaix, 240km, 1022 , 32 Pavé-Sektionen mit ca. 52km Kopfsteinpflaster

Monument

Unserem 4. Mann Ede gebührt an dieser Stelle an RIESEN DANKESCHÖN für den Support (Gude Laune!) und den Transport unseres Gepäcks von St. Quentin nach Paris. Ebenso ein Dank an die Fiat-Deutschland AG für die Bereitstellung des Transportgefährts.

PS: Ja, ich habe zugenommen, allerdings wurde ich auf dem letzten Bild auch etwas unvorteilhaft getroffen.

darkdesigner

10 Kommentare

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