Home » Touren » Eine der letzten großen Expeditionen

Eine der letzten großen Expeditionen

Vorwort:

Wie der regelmäßige Besucher dieser Seiten sicher schon festgestellt hat, stagniert die Anzahl aktueller Berichterstattung seit einiger Zeit auf einem unerfreulichen Level.
Diese Tatsache liegt unter anderem darin begründet, dass es sich beim ESK nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, um einfache Radfahrer im herkömmlichen Sinne, sondern um eine Gesellschaft handelt, die auch anderen Aufgaben nachzukommen pflegt. Zu diesen Aufgaben zählt unter anderem das studieren historischer Archive, vor allem auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit und zur Richtigstellung falscher Lehrmeinungen.
Das folgende Fundstück stammt aus dem Hochsommer des Jahres 1912 – der Zeit der letzten großen Expeditionen.

Etwa drei Jahre zuvor wollen sowohl ein gewisser Peary, als auch ein Cook, zuerst den Nordpol erreicht haben und im vergangen Winter stand Amundsen als erster Mensch am Südpol. Damit war die Erde erschöpfend erforscht, mag der ungebildete Kleingeist denken – aber weit gefehlt!
In einer öden und menschenleeren Region, dem Süden Brandenburgs, tobte der Kampf um die Tilgung großer weißer Flecken von der Landkarte in unvermindertem Maße weiter. Eine wichtige Schlacht in dessen Verlauf soll im folgenden geschildert werden.

Mai / Juni 1912
Für die Jahreszeit gab es in Brandenburg ungewöhnlich häufige Niederschläge und selbst aus den südlichsten ständig besiedelten Gebieten wurde gelegentlich Regen gemeldet:

Regen in Brandenburg

Im Normalfall wäre es absolut töricht gewesen eine Expedition in den Süden Brandenburgs Mitte Juni zu starten, doch der Leiter der geographischen Gesellschaft des ESK, ein gewisser Stelzenacker, meinte, um später nicht wie Scott als Verlierer da zu stehn, müssten die einmaligen Wetterbedingungen genutzt, und schnellstmöglich eine schlagkräftige Truppe zusammengestellt werden.
Schnell war die Auswahl auf den erfahrenen Oberst Wilhelm Herking, den kampferprobten, ehemaligen Braumeister Hans Tuchman, den Maschinenschlosser Ulrich Kühn und auf Paul Viktor Stelzenacker selbst gefallen. Bei einem nächtlichen Radausflug verunfallte Tuchman jedoch und fiel aus.
Also beschlossen Herking, Kühn und Stelzenacker sich der Herausforderung als Trio zu stellen und in den frühen Morgenstunden des 20. Juni aufzubrechen.

Die folgenden Zeilen und Bilder entstammen Kühns Reisetagebuch und wurden am 26. Juni in einer regionalen Zeitung abgedruckt.

Tag 1 – 20. Juni 1912
Mit der, in der späten 80er Jahren im Rahmen des Kanonenbahnprojektes eingerichteten, Eisenbahn gelangt mein Kamerad Oberst Herking zum Startpunkt unseres kleinen Abenteuers. Er ist allein angereist, weil wie sich später herausstelle, Stelzenacker nach seiner letzten Reise den Wecker nicht wieder an unsere Zeitzone angepasst hatte. Da die Umstände einen Aufschub nicht zulassen, beschließen wir, trotz mangelnder geographischer Kenntnisse, das Wagnis auf uns zu nehmen und zu zweit zu starten. Die Unterstützung in der ortsansässigen Bevölkerung scheint groß, denn selbst an den Wänden der Gebäude erspähen wir das Kürzel unserer ehrwürdigen Gesellschaft.

Zustimmung

Wie so oft haben wir uns dazu entschlossen die Weite der märkischen Landschaft mit dem Fahrrad zu ergründen. Herking setzt dabei auf neu entwickelte Reifen der Firma Continental, die auf dem zu erwartenden schwierigen Untergrund besonders gute Arbeit leisten sollen.
Es dauert nicht lange, da haben wir die Siedlung verlassen und sind fortan auf uns selbst gestellt. Noch bieten kleine Seen die Möglichkeit unsere Vorräte in Form von frischem Fisch aufzufüllen, den wir bei Wanderfischern im Tausch gegen eine Flasche billigen Fusels erstehen. Auch die Flora birgt in diesen Breiten noch so manchen Reiz: (Foto mittels digitaler Bildbearbeitung partiell nachcoloriert)

Farbenpracht

Doch der Sand dehnt sich schon bald bis an die Ufer der immer seltener werdenden Wasserstellen aus und in der Mittagshitze gesellt sich zum glühenden Flimmern über der Ebene auch noch ein durch Wassermangel hervorgerufenes Flimmern vor meinen Augen. Wir nutzen den Schatten einer knorrigen Kiefer um eine Rast zu machen und den bisherigen Verlauf unserer Route kartographisch zu skizzieren.
Mit sinkender Sonne steigen wir wieder in den Sattel und setzen unsere Reise fort. Ziel ist der Teufelssee, der nur in feuchten Sommern wie diesem noch einigen Kubikmetern brackigen Wassers seine Bezeichung als See zu verdanken hat. Doch nach den Strapazen des Tages ist uns selbst diese lauwarme Brühe eine wahre Segnung.

Teufelssee

Tag 2 – 21. Juni 1912
Nach einer, aufgrund der Myriaden von Mücken, durchwachten Nacht besteigen wir noch vor Sonnenaufgang unsere Räder und scherzen, dass wir uns, derart leergesaugt, wenigstens nicht blutig fahren könnten. Die Bäume sind inzwischen fast ausschließlich Gras und Buschland gewichen und so beschließen wir, um bei späteren Expeditionen das Vorwärtskommen zu erleichtern, einfache Wege anzulegen.

Wegebau

Diese Art zu reisen ist kräftezehrend und dörrt unsere Körper aus, bis wir schließlich nur noch einen zähen Schleim in den Mündern haben. Die Reste warmen Wassers in unseren Vorratsbehältern sind mehr warm als Wasser und außerdem trüb und schlammig. Doch unter Einsatz dieser letzten Reserven gelingt es uns aus zwei mitgebrachten Baumstämmen auf einer, die anderen überragenden, Sandkuppe ein Kreuz zu errichten. Der Sandkuppe geben wir aus Spott und Verzweiflung den Namen Weinberg.
Wieder warten wir die Mittagsstunden ab, wobei sich diesmal jeder von uns mit einer Hälfte des Schattens des Querbalkens des zuvor errichteten Kreuzes begnügen muß. Noch bevor wir die Weiterreise antreten, erklimme ich das Kreuz und kann in weiter Ferne einen glitzernden Schimmer erspähen.

am Kreuz

Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Oase. Auf dem Quellsee schwimmt ein Schwan, den wir uns zum Abendessen braten.

Schwan

Zum Nachtisch verlustieren wir uns an den Früchten der prächtig behangenen wilden Kirschbäume.

Kirschen

Tag 3 – 22. Juni 1912
Die Nacht in der Oase verlief erholsamer und so fühlen wir uns fit genug den Herausforderungen dieses neuen Tages entgegen zu treten. Mittlerweile prägen hohe Sanddünen das Gelände, die nur auf der dem Wind zugewandten Seite teilweise befahrbar sind.

Düne

Plötzlich vernehmen wir von der Leeseite einer solchen Dühne den Lärm versterbender Motoren. Und schon im nächsten Augenblick streift ein Flugzeug nur knapp über unsere Köpfe hinweg.

Flieger

Eine französiche Expedition hatte versucht uns das Gebiet streitig zu machen, doch wie es scheint, hat der feine Sand dem Motor ihrer Maschine den Garaus gemacht und so zerschellen sie an der folgenden ansteigenden Dünenflanke. Wir denken uns, wer derart unritterlich kämpft, hat es auch nicht verdient ritterlich zu sterben, lassen die toten Franzosen tote Franzosen sein und ziehen weiter unseres Weges. Wobei von Weg eigentlich keine Rede mehr sein kann, denn hinter den Dühnen erstreckt sich ein schier endloses Meer aus mannshohem Steppengras, das sich beim Versuch es zu durchqueren regelrecht verknotet. Doch unter dem ständigen Rezitieren von Sprüchen wie „ Vorwärts immer, Rückwärts nimmer“ und „Wir trampeln durchs Getreide, wir trampeln durch die Saat…hurra, wir verblöden, für uns bezahlt der Staat!”, sowie einiger Flüche, meisterten wir auch diese Anstrengung.

Steppengras

Mit Einbruch der dritten Nacht finden wir ein geeigentes Lager und nehmen uns vor am folgenden Tag den Rückweg anzutreten.

Tag 4 – 23. Juni 1912
Direkt vor uns liegt ein gewaltiges Massiv aus feinstem Sand rot glühend in der Morgensonne. Der Wind hat zugenommen und kommt aus Nordwesten, also der Richtung in die wir uns bewegen müssen, wenn wir hier nicht verrecken wollen. Aus den kärglichen Resten unserer Vorräte bereiten wir uns ein Frühstück und schlingen es herrunter. Nur schwer können unsere ausgemergelten Körper die Nahrung bei sich behalten, doch wir müssen uns dazu zwingen und notfalls eben nochmals schlucken.
Gleich nach dem Aufbruch erwartet uns loser, knietiefer Sand und Anstiege die jeglichen physikalischen Gesetzen die lange Nase zu zeigen scheinen. Ich mache ein letztes Bild, nehme den Film aus der Kamera und lasse den Ballast zurück.

Sand

In den folgenden Stunden kann Herking den Vorteil seiner Reifen voll ausspielen. Ich hingegen ermatte immer mehr. Doch Herking erweist sich, wie schon so oft, als erstklassiger Kamerad und kundschaftet die besten Routen aus, während ich im Schatten einiger toter Bäume liegend meine letzten Kräfte sammle.
Wie im Traum erscheint es mir als er gegen Abend meint am Horizont Rauch gesehen zu haben. Und tatsächlich hat am nordwestlichen Fuße des Massivs eine britische Expedition ihr Basislager aufgeschlagen. Im Schatten einiger Kiefern warten wir den Einbruch der Nacht ab und machen uns sodann über ihre Vorräte her, um anschließend gut gestärkt wieder in der Dunkelheit zu verschinden.

Tag 5 – 24. Juni 1912
Wir nähern uns merklich der Zivilisation. Langsam werden aus Pfaden Wege und aus Wegen Straßen. Bereits am Nachmittag erreichen wir unser Ziel wo Stelzenacker schon auf uns wartet. Wir sähen müde aus meint er – wären wohl zeitig aufgestanden.
Doch es gab frisches Bier und Gegrilltes und so war Stelzenackers neckische Bemerkung schnell vergessen und er, der Geograph, darf nun den ganzen Sand in der Karte verzeichnen.

7 Kommentare

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

  • Erstklassige Berichterstattung, die diesen grauen Morgen versüßt wie die roten Kirschen an dem schwarz-weißen Baum! Danke!

  • Da ich am Zielort bereits auf die Heimkehrer wartete, konnte ich mir bei dem späteren gemeinschaftlichen Grillabend bereits diverse Geschichten dieser eindrucksvollen Entdeckungsreise in den Märkischen Sahel anhören. Leider ließ es mein Zustand nicht zu, bei dieser Reise dabei zu ein und wenngleich ich Bedenken hatte, meine Gefährten alleine und ohne Geographen in die Wildnis zu entlassen, so meinte ich doch, dass es besser wäre als ihnen nachher ein unötiger Balast bei den Erkundungen zu sein. Im Sinne von Leib, Leben und Bettruhe ließ ich sie also alleine starten und begnügte mich darin, ihnen eine netten Empfang nach ihren Strapazen und gewähren.

    Großartig ist es, nun auch einige dieser raren Bilddokumente aus dem Märkischen Sahel, dieser unerforschten Region der Verdammnis, zu sehen. Interessant die doch unerwartet reichhaltige Gegenwart von Flora und allerlei essabrem Getier bestaunen zu können. Ich bin unsagbar glücklich, daß meine Reisegefährten, auch oder gerade ohne mich, die strapaziöse Reise mit ihren Velozipeds hinter sich gebracht, einige weiße Flecken auf der Landkarte getilgt und den Rückweg gesund und wohl auf, wenn auch ermattet überlebt haben.

Archiv

Archive

Folgt uns auf