„L‘ Eroica 2005“ oder „Mit ESK Ausweis kommt man überall rein“

mein freund und geschäftspartner ist vater geworden. somit liegt das geschick unseres kleinen krämerladens in meinen unfähigen, gern abgelenkten und in jeder freien minute mit dem tippen von angeberischen radfahrerberichten beschäftigten händen. bitte entschuldigt die dadurch entstandene verspätung und die nur bruchstückhafte verfassung dieser fortsetzungsgeschichte.

der marktplatz von gaiole war gegen 06.00 uhr bereits mit allerhand absonderlichen figuren gefüllt. ganz anders als in deutschland üblich, wurde hier weder der historische rennradler, noch der hochmoderne -fahrer, weder der scott-carbonfan, noch der führer eines zeitgemäßen titancrossers gedizzt. nein, es wurden keine fahrräder von korpulenten nichtradlern weggeworfen und/oder mühevoll zerstört, noch wurde der einzelne, oder deren zehn gänge besonders gewürdigt – es fuhren eben, ganz undeutsch, alle miteinander und verstanden sich trotz fehlender abgrenzung dabei prächtig!
nachdem ich diesen schock verdaut hatte und das formblatt für beschwerden bei widerrechtlicher nutzung nicht ausschreibungkonformer fahrzeuge (BebwNutAuFahrz) wieder weggesteckt hatte, konnte ich die wunderbare stimmung an diesem herbstlichen morgen mitten im herzen der toskana in vollen zügen geniessen:

eine weile stand ich auf dem marktplatz und bewunderte immer neue starter. teilweise gingen historische teams an den start. alte bianci-räder, gleiche wolltrikots, teammützen, handschuhe in den italienischen nationalfarben, dann wieder ein wilder trekingrad-pilot mit blauer neoprenmütze, roter gorejacke und 12 liter trinkrucksack. dann schob ein älterer herr, sicher über 70, sein -fixie von 1935 mit bügellenker und holzfelgen an den start. verdammt – der hatte nur seinen kleiderschrank geöffnet und ganz normale klamotten für die sontagausfahrt rausgezogen! es war einfach super! jeder fahrer musste durch das startzelt:

null

dort bekam man den ersten stempel in seinen fahrerpass und trug sich ganz profihaft in die startliste ein:

eigentlich wäre es nun an der zeit gewesen ruckzuck auf die strecke zu gehen – doch so richtig eilig hatte es niemand. alle hatten diesem moment lange entgegen gedürstet und nun, ja nun hiess es diesen augenblick noch etwas festzuhalten, ihn zu verinnerlichen und voll mit der magie dieser romantischen veranstaltung zu verschmelzen. jeder trat nun seine reise in die vergangheit an, einige zog es zum giro 1965, andere hatten coppies kampf am stilfser joch vor augen, die dritten sahen staubige strassen auf denen miguel seine unendliche eleganz ausspielte:

jeder suchte seine historische inspiration und erst als wir uns alle in einer vergangen und doch noch lebendigen zeit befanden, an einem punkt, der für jeden etwas besonderes bedeutete, erst da durchzuckten erste regungen die muskeln, spannten sich breite, schwere ketten und rollten leicht ratternd die räder an. kaum lag der marktplatz hinter uns, umschloss uns die dunkelheit der italienischen landstrasse, der duft des späten sommermorgens und die freude nun gemeinsam dem abenteuer entgegen zu fahren:

die strasse. windschatten, gebeugte körper, enge trikots, weisse baumwollsocken, wortfetzen – italienische wortfetzen! ja – ich befand mich definitiv mitten beim start einer etappe des giros 1965! im trikot des deutschen meisters und auf ru-fa sport war ich ohne team am start. trotzdem liessen mich die italiener vom team „s.c.l. guerra“ mitfahren. leise durchzogen wir die engen, kurvigen strassen richtung süden. der himmel hellte langsam auf – ein segen, denn durch die dunkelheit war das fahren in der gruppe eine nicht ganz einfache aufgabe. die konturen der hügeligen landschaft erschien schrittweise und bald waren die vorboten der morgensonne am himmel auszumachen.

in flotter fahrt überholten wir einige vor uns gestartete gruppen, einige fuhren mit, andere fielen raus. dann ging es die erste steigung hinauf. plötzlich wurde mir klar, dass ich regelrecht eiskalt geworden war. die steigung tat mir gut, brachte sie mich endlich auf betriebstemperatur. steil ging es bergab und dann scharf links. nicht einfach nur links, sondern links in eine der „weissen strassen“ hinein. ein netz dieser strassen durchzieht italien, verbindet weingüter und kleine dörfer miteinander und doch werden diese strassen von keiner karte richtig erfasst. laut streckenplan soll die fahrt für 90km über teerstrassen und für 110km über diese weissen strassen führen. im rahmen der l´eroica soll für den erhalt dieser nicht asphaltierten wege geworben werden. ich fühlte mich also in der mission des oberst unterwegs. gespannt erwartete ich die ersten fahreindrücke. „na geht ja“ dachte ich, ohne der tatsache rechnung zu tragen, dass eben erst 500 meter dieses weges hinter mir lagen. schon stand der erste mit reifenpanne am rand.

die gruppe fuhr sehr vorsichtig – ja, regelrecht langsam. also besonn ich mich meiner verantwortung (ja, das trikot lag tonnenschwer auf meinen schultern) und fuhr nicht wirklich schnell, aber deutlich aus der gruppe nach vorn. mich begleiteten peter und matthias, zwei triathleten aus münchen und die einzigen deutschen fahrer, denen ich begegnete. wenig später signalisierte peter eine reifenpanne. lächelnd zogen die jungs vom team „s.c.l. guerra“ an uns vorbei.

wieder im sattel erlebten wir die erste supersteile schotterabfahrt. am strassenrand suchte sich ein herr mühsam kleine steinchenaus der schürfwunde. mir kamen jetzt die ersten sorgen, ob wohl 200km immer auch nur 200km sein würden, oder ob sich wohl die streckenbeschaffenheit deutlicher als gedacht auswirken würde. kurze zeit später hatte peter seinen zweiten platten. sein letzter schlauch war also schon nach 30km verbraucht, aber keine sorge, er hatte ja noch flickzeug. als diese weitere 4-5km weiter tatsächlich auf den plan gerufen wurde, verabschiedete ich mich sehr nett, aber ganz unbrüderlich und machte mich auf die suche nach „s.c.l. guerra“.

nach etwa 2.5 stunden fahrt erreichte ich die erste kontroll-station. himmel! da standen in korb gebundene 2.5 liter flaschen voll wein auf dem tisch, daneben grosse holztafeln mit italienischer wurst, mit käse und schinken. brote, obst und frische weintrauben rundeten den anblick ab (ich fragte höflich nach einem powerbar „banane-coffein“. leider waren alle vergriffen). so trank ich ein gläschen wein, steckte mir einige scheiben salamie in den mund und rollte derartig zufrieden weiter – ich kann es garnicht beschreiben, wie verdammt gut es mir ging!

im unterlenker gewöhnte ich mich an einen relativ schweren fuss, also hängte ich mich bei merckx rein und gemeinsam hatten wir bald die verdammten italiener wieder vor uns! natürlich überholte ich sie flott und als sie sahen, das merckx die arbeit für mich machte, ging keiner mit. unterwegs stiess ich auf zwei weitere fahrer. einen hageren italiener und einen stemmigen belgier. zu dritt kreiselten wir und überholten immer weitere der früher gestartenen fahrer.

dann ging es in einige hinter einander liegende, aber wirklich steile schotterpassagen hinein. meine „tolle“ half-step übersetzung bescherte mir nun eine übersetzung von bestenfalls 48:23 mit 170er kurbeln und so war ich zu rascher, zu unvernünftig rascher fahrweise gezwungen. leidend – ich stand bis zur hüfte in der milch – erreichte 09.50 die nächste kontrollstation auf dem gipfel eines ewig erscheindenden anstiegs. platt wie eine flunder versuchte ich mich zu erholen, stellten sich doch bei zunehmender ernüchterung gewisse entziehungserscheinungen ein, die sich durchaus negativ auf die moral auswirken konnten. nach etwas und dem dadurch wieder warmen, wohligen gefühl, welches vom magen aus in alle glieder strahlte, bestieg ich erneut das rad und hoffte darauf, dass sich schottersteigung mit deutlich mehr als 16% bitte nicht wiederholen mögen. so rollte ich durch den schwarzen schnee, nuckelte an der staubigen alutrinkflasche und irgendwann stolperte ich über die leise frage in meinem kopf: „wie lange noch?“. ich hatte weder tacho noch uhr dabei und so began ich munter zu mutmaßen. angesichts meines nun inzwischen rapiden form- und konditionsverlustes errechnete ich mir, dass es wohl so gegen 13.30-14.00 uhr sein könnte. meine kraft schien langsam zu versiegen. es musste etwas passieren.
ich erreichete die nächste station. der zeitstempel zeigte 11.20uhr! „umgotteswillen nein“ dachte ich. es gab warmen eintopf, wie immer die gesamte vorspeisenplatte bester berliner restaurants und den inzwischen lebensnotwendigen chianti aus riesigen flaschen. neben mir füllten die fahrer ihre tinkflaschen mit dem traubensaft auf, anderer steckten sich schinkenscheiben in die trikottaschen und wieder dritte waren schon so kraftlos, dass sie nur zusammen gekauert im gras saßen.

sollte dieses wirklich eine „heroische“ veranstaltung werden? der tag lag noch vor mir, aber der elan, ihn mit offenen armen zu empfangen war schon beträchtlich kleiner geworden.
es lagen nun etwa fünf stunden fahrt hinter mir und hätte mir jemand gesagt, dass es noch weitere sechs werden sollten – ich wäre sofort richtung gaiole gefahren und hätte der sache ein rasches ende bereitet.

so weit… menis

scrolle ich jetzt hier hoch, dann beschleichen mich harsche zweifel, ob diese bleiwüste überhaupt zumutbar ist?!

10 Kommentare

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  • Verdammt noch mal, was heißt da Fortsetzung??? Ich hänge hier in Hamburch am Rechner und lese diese absolut hochwertige Radgeschichte und will jetzt, aber sofort, auf der Stelle und gleich wissen wie es weitergeht!!!
    Lieber Menis, wie geil ist das letzte Foto denn, da verblassen alle HEW-Henninger-Schwuppen Fotos um Längen, DANKE!!!

    Ich warte,
    dd „Eule“

    Wie gerne wäre ich als junger Eule dabei gewesen 😉

  • L’Eroica! Das wäre was für den Jockel. Mit alten, abgeranzten Ledertöppen, gewandet mit seinem gammligen, himmelblauen, mit XXL-Syndrom versehenem „Lokomotive Pankow“ Trikot und ab geht die Luzi… Was könnte es für ein schöneres Ziel im Leben eines Mannes geben?

  • Herrlich! Wenn mir nicht schon das geld fehlen würde, meine modernen Räder in Schuss zu halten, ich würde in diesem Winter kräftig einkaufen, um in Deine Fußstapfen zu treten. Schließlich sehen die alten Schwarz-Weiß-Bilder immer irgendwie wilder und romatischer aus, als die modernen Hochglanzfarbfotos der aktuellen Profis!

  • sehr schön,

    das war wirklich ein herrlicher bericht. ich wähnte mich beim lesen so richtig selbst auf diesen staubigen schotter-pisten. fertig, durstig und nur noch stupide richtung ziel stampfend. dabei voller nostalgie, pilgerern gleich, die das matyrium ihrer heiligen nachzuleiden suchen. naja, so haben wir nun beide eine ganze weile damit zugebracht, die fahrberichte des anderen zu studieren. vielleicht kommen in der nächsten saison ja noch weitere hinzu. bis dahin…

    mirko (der aus dem tour-forum mit der transalp-story)

  • wahnsinn.
    die beste radfahrgeschichte, die ich je gehört hab.
    und eine wirklich großartige leistung… kompliment auch an die tomaten-mozarella-rennbegleitung für den support.
    esk sollte medaillen vergeben, an beide. das rote ritzel am hanfband oder sowas…
    r e s p e k t !
    jensB von rennradnews/forum

  • …tolle Veranstaltung und Geschichte! Kannst Du mir sagen woher man einen Streckenverlauf oder eine Karte der Strecke bekommen kann? – Ich fahre im April in diese Gegend und würde unheimlich gerne die Strecke nachfahren!

    Vielen Dank im Voraus

    Christoph

  • ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass es eine karte gibt. irgendwo im netz (google) habe ich mal eine karte gesehen, aber die kleinen „weissen strassen“ sind teilweise nicht einmal verzeichnet. sorry – aber da kann ich dir leider nicht weiter helfen (schliesslich habe ich es selbst bei ausgeschilderter strecke geschaft, mich zu verfahren…). grüsse… menis

  • In einem Bericht über die 2005er L’Eroica hab ich gelesen, dass die 200-km-Strecke jetzt permanent beschildert werden soll (wann das soweit ist, stand da aber nicht drin).
    @Menis: Dein wunderbarer Bericht schlägt den aus der „Rennrad aktiv“ (oder so) um Längen! L’Erocia wäre wohl das richtige Einsatzgebiet für mein altes Bianchi, das ich erst vor kurzem wegen akutem Eisenmangel erstanden hab…

  • Bin dieses Jahr die 200km gefahren und mir ist sogar der Berichtsschreiber Dieter, im gleichen Outfit, in Gaiole auf dem Marktplatz aufgefallen. Ich kann eigentlich nur noch hinzufügen, dass dieses Rennen ein für immer unvergessliches und beispielsloses Erlebnis ist und für jeden Hobbyfahrer eine tolle Herausforderung darstellt.

    Christoph, falls Du die Strecke immer noch abfahren willst, ich habe die Strecke als pdf. und kann diese gerne mailen.

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